Rabenschwarz bis Heiter

Erlebte Geschichte einer Hospizbegleiterin

Frau U. 104 Jahre alt, seit 30 Jahren verwitwet lebte schon mehrere Jahre in einem Heim.

Dort war die freundliche und zugewandte Frau bei den Mitbewohnern und dem Pflegepersonal gleichermaßen beliebt. Sie sagte allen, auch ihrer über 80jährigen Tochter und dem 85jährigen Schwiegersohn, dass sie nicht sterben will!  Alle lächelten über sie, keiner mochte über das Thema sprechen.

Eines Tages erkrankte Frau U.. Sie konnte nicht mehr aufstehen, hatte Luftnot und der Arzt behandelte ihre Lungenentzündung. Ihr Zustand veränderte sich dennoch zusehends. Der Schwiegersohn erlitt einen Herzinfarkt und die Tochter brach sich den Knöchel. Da beide der Mutter nicht mehr beistehen konnten, wurde der Hospizkreis gerufen.

Ich sollte Frau U. begleiten. Bei meinem ersten Besuch rief Frau U. sofort: „Damit Sie es gleich wissen, sterben will ich nicht!!!“ Nach einer kurzen Pause fragte ich sie, wovor sie denn Angst hätte.

Sie antwortete: „Ich habe Angst in den Himmel zu kommen, denn dort könnte ich meinen Mann wieder treffen. Der hat mich sehr schlecht behandelt und sogar verprügelt! Und deshalb rede ich erst gar nicht mit Ihnen übers Sterben.“

Bei meinen nächsten Besuchen las ich Frau U. aus ihren Lieblingsbüchern vor und als sie zusehends schwächer wurde, setzte ich mich ans Bett und hielt ihre Hand. Alle hatten den Eindruck, dass sie sich vehement gegen das Unausweichliche stemmte. Medikamente lehnte sie kategorisch ab.

Eines Tages fasste ich mir ein Herz und sagte zu Frau U.: „Aufgrund Ihrer Erzählung verstehe ich gut, dass Sie nicht sterben wollen. Aber stellen Sie sich doch einmal vor: Falls Ihr Mann überhaupt in den Himmel gekommen ist, wird Petrus, der Ihre Geschichte ja kennt, Sie sicher in eine andere Abteilung schicken und so werden Sie Ihren Mann nicht wieder treffen.“

Nach einiger Zeit kam leise die Frage: „Meinen Sie das wirklich?“ Mein bestimmtes JA beruhigte sie sichtlich und sie lächelte schwach. Frau U. hatte eine ruhige Nacht und ist am nächsten Tag friedlich gestorben.

Bei meinem Abschlussgespräch mit den Angehörigen sagte die Enkelin, dass sie sicher sei, dass ihre Großmutter nur so alt geworden sei, weil sie das Wiedersehen mit ihrem Mann im Jenseits so gefürchtet habe.

Text: HKO
Graphik: HKO